"Die Klöpplerin" | nach einem Text von H. Wenke | ||||
Als der Liebe Gott die Klöpplerin erschuf, machte er bereits am sechsten Tag Überstunden. | |||||
Da erschien der Engel und sagte: "Herr, Ihr bastelt aber lange an dieser Figur!" | |||||
Der Liebe Gott sprach: "Hast Du die speziellen Wünsche auf der Bestellung gesehen? Sie soll pflegeleicht aber nicht aus Plastik sein, sie soll 160 bewegliche Teile haben und sie soll Nerven wie Drahtseile haben. Sie soll einen Rücken haben, auf dem sich alles abladen lässt, und sie soll in einer überwiegend gebückten Haltung leben können. Ihre Geduld muss unermesslich sein, und sie soll sechs Paar Hände haben." |
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Da schüttelte der Engel den Kopf und sagte: "Sechs Paar Hände - das wird kaum gehen!" | |||||
"Die Hände machen mir keine Kopfschmerzen", sagte der Liebe Gott, "aber die drei Paar Augen, die eine Klöpplerin haben muss." |
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"Gehören die denn zum Standardmodell?" fragte der Engel. | |||||
Der Liebe Gott nickte: "Ein Paar, das jeden falsch laufenden Faden entdeckt; ein zweites Paar, das die Nadelpunkte richtig sieht; und noch zwei Augen, mit denen sie die Farben genau erkennt." | |||||
"O Herr!", sagte der Engel und zupfte ihn leise am Ärmel, "geht schlafen und macht morgen weiter!" |
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"Ich kann nicht", sagte der Liebe Gott, "denn ich bin nahe daran, etwas zu schaffen, das mir einigermaßen ähnelt. Ich habe bereits geschaffen, dass sie 30 Paare Klöppel mit flinken Bewegungen dreht und kreuzt; dass sie aus farbigen Arbeitszeichnungen weiße Spitze klöppelt und dass sechspaarige Verbindungen richtig laufen." | |||||
Der Engel ging langsam um das Modell der Klöpplerin herum. "Zu weich", seufzte er. "Aber zäh", sagt der Liebe Gott energisch. "Du glaubst gar nicht, was diese Klöpplerin alles leisten und aushalten kann!" |
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"Kann sie denken?" | |||||
"Nicht nur denken, sondern sogar urteilen und Entwürfe zeichnen", sagte der Liebe Gott, "und raffiniert mogeln!" | |||||
Schließlich beugte sich der Engel vor und fuhr mit dem Finger über die Wange des Modells. "Da ist ein Leck", sagte er. "Ich habe Euch ja gesagt, Ihr versucht zuviel in das Modell hinein zu packen." |
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"Das ist kein Leck", sagte der Liebe Gott, "das ist eine Träne." | |||||
"Wofür ist die?" | |||||
"Sie fließt bei Freude über ein gelungenes Stück und bei Enttäuschung, wenn etwas nicht gelingt." | |||||
"Ihr seid ein Genie!" sagte der Engel. | |||||
Da blickte der Liebe Gott versonnen: "Die Träne", sagte er, "ist das Überlaufventil." | |||||
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